Wie Georgien entstand – eine Legende

Gott teilte eines schönen, sonnigen Tages seine von ihm erschaffene Erdkugel in Länder auf (das muss noch lange vor dem Turmbau zu Babel gewesen sein) und veranstaltete einen Jahrmarkt, auf dem alle Menschen sich lautstark überboten, um die Gunst von Gott buhlend, in der Hoffnung, so das beste Fleckchen Erde abzukriegen (ich vermute, die Italiener waren die Effektivsten in der Kunst der Beeindruckung und die Tschuktschen hatten es nicht so recht drauf). Nach einem langen Tag war die Welt in viele Länder aufgeteilt und Gott müde. Aber Gott – so weise wie eh und je – hatte für sich natürlich eine Art Urlaubssitz zurückbehalten, das schönste Fleckchen Erde: reich an Flüssen, an Wasserfällen, an saftigen Früchten und – er muss es geahnt haben – mit dem besten Wein der Welt. Und als sich die aufgeregten Menschen auf den Weg in ihre neue Heimat gemacht hatten, wollte sich der liebe Gott unter einem schattigen Baum ausruhen, wo er einen schnarchenden Mann entdeckte (bestimmt mit einem Schnurrbart und einer gemütlichen Wampe, so habe ich ihn mir zumindest immer vorgestellt). Er war bei Aufteilung nicht dabei gewesen, und Gott wunderte sich. Er weckte ihn und fragte, was er hier tue und warum er kein Interesse an einer eigenen Heimat habe. Der Mann lächelte mild (vielleicht hatte er sich bereits ein, zwei Gläschen Rotwein genehmigt) und meinte (da gibt es verschiedene Versionen der Legende, aber einigen wir uns auf diese), dass er auch so zufrieden sei, die Sonne scheine, es sei ein herrlicher Tag und er würde sich mit dem begnügen, was Gott für ihn übrig hätte. Und der liebe Gott, gütig wie eh und je, beeindruckt von der Lässigkeit und dem nicht vorhandenen Ehrgeiz des Mannes, schenkte ihm sein eigenes Urlaubsparadies, also Georgien.
Aus Nino Haratischvili: Das achte Leben

Auftakt – „I talked with the captain“

Unsere Reise nach Georgien beginnt aufregend. Seit dem Ausbruch von Corona haben wir gebangt, ob wir diese Reise antreten werden können. Nun steht der Abflug kurz bevor und alle Zeichen stehen auf grün. Montag Abend soll es los gehen und am Freitag fangen wir langsam mit den Reisevorbereitungen an. Am Sonntag Morgen holt mich Roland mit einem Anruf aus dem Bett: „Das ist jetzt kein Scherz, unser Flug geht heute Abend. Wir sind schon eingecheckt!“ Schlagartig bin ich wach. Die Lufthansa hat mal eben unseren Flug vorverlegt. Na, das ging ja gerade noch mal gut. Also los: packen, Lebensmittel versorgen, Nachbarn instruieren und auf zum Flughafen.
Der Münchner Flughafen ist seltsam leer. Fast alle Läden sind geschlossen. Die Gepäckaufgabe und der Sicherheitscheck gehen dermaßen zügig von statten, dass wir fast beginnen, uns zu langweilen.
Doch dann wird es interessant: Wir sitzen am Gate und beobachten. Bis zum Boarding sind es noch zehn Minuten. Vor den Schranken tummelt sich eine Menschenmenge. Sicherheitsabstand? Kaum ein Zentimeter! Masken? Bis maximal unter die Nase! Die wiederholten Durchsagen des Lufthansapersonals werden ignoriert: „Bitte halten Sie unbedingt den Sicherheitsabstand von eineinhalb Metern ein. Tragen Sie Ihre Masken korrekt. Bitte treten Sie zurück, wenn Sie nicht Businessclass gebucht haben. Bitte lassen Sie die Passagiere der Buchungsgruppe 3 durch!“ Solch einen sturen Menschenhaufen haben wir selten erlebt.
Wir gehören zur Buchungsgruppe 3 und nachdem wir uns bis zum Gate durchgekämpft haben und nach viel Gerempel endlich im Flugzeug auf unseren Plätzen sitzen, staunen wir weiter. Jeder Platz ist besetzt. Wie war das mit dem Sicherheitsabstand? Naja, immerhin tragen alle eine Maske… wenigstens bis zur Nase… wenn sie nicht gerade essen oder trinken.
Der Flug vergeht schnell und nach knapp dreieinhalb Stunden landen wir auch schon in Tiflis. Der Pilot informiert uns, dass das Aussteigeprozedere ein besonderes sei, aufgrund der Einreisebestimmungen in Georgien. Wir sind gespannt. Ah, wir sollen der Reihe nach aussteigen, also erstmal die Sitzreihen 1–4. Alle anderen sollen sitzen bleiben, bis sie dran sind. Da spurten vier junge Männer aus den Reihen hinter uns – Wir sitzen in der Reihe 24 – nach vorne. Die Stewardess versucht sie aufzuhalten, aber sie rennen weiter und der erste ruft über die Schulter: „I talked with the captain.“ Aha! Nach dem Aussteigen stehen auch diese vier in einer langen Schlange mit uns allen und warten auf die Passkontrolle. Darüber haben sie wohl nicht mit dem Captain gesprochen. Da wir uns vor unserem Flug über die Einreisebestimmungen informiert haben, sind wir darauf vorbereitet, dass unsere Temperatur gemessen wird, bevor wir einreisen dürfen. Die wird aber gar nicht gemessen. Stattdessen werden wir zwei Stunden lang nur meterweise weitergeschleust und schließlich mit einer kleinen Gruppe Mitreisenden in einem Bus in ein Labor gefahren. Das hat uns freundlicherweise eine mitreisende Georgierin aus unserer Gruppe übersetzt. Zumindest werden Einheimische und Touristen offensichtlich gleichbehandelt. Aber dass uns alle ein Coronatest erwartet, hätte uns zumindest vorher mitgeteilt werden können. Um mittlerweile fünf Uhr morgens sind wir zu müde, um uns zu beschweren. Das übernehmen für uns zwei junge Georgierinnen, die wie die Rohrspatzen schimpfen. Es verbreitet sich das Gerücht, wir müssten nun 24 Stunden in Quarantäne, bis die Testergebnisse da seien. Zum Glück dürfen wir aber nach dem Test unser Gepäck abholen und endlich zum Ausgang. Dort hängt ein Schild mit Rolands Namen und einer Telefonnummer. Nanu? Wir schauen uns um. Das Flughafengebäude ist fast leer. Alle Läden sind geschlossen. Links von uns steht ein junger Mann und taxiert uns mit unbewegter Miene. Wir schauen intensiv auf das Schild mit Rolands Namen. Schließlich nähert sich der Mann und fragt: „Mr. Schmid?“ Ah, er ist von Europcar. Unser Autovermieter holt uns ab. Das ist ein Service! Kein Schlangestehen am Schalter! Das Büro muss er dann auch erst mal aufschließen. Offensichtlich hat er Probleme mit dem Schloss. Er kann den Schlüssel nicht mehr herausziehen. Ich beobachte ihn fasziniert, während Roland seine Papiere zusammensucht. Das Büro, ein kleines Kabuff ist komplett leer, unmöbliert mit kargen Wänden. Nach einigen Minuten hat unserer Autovermieter endlich den Schlüssel wieder in seiner Gewalt und den Tresen zwischen uns und sich gebracht. Nun werden ganz geschäftig Papierseiten ausgefüllt. Endlich sind die Formalitäten erledigt und wir können zum Auto gehen. Während Roland noch schnell Geld am Automaten abhebt, versucht unser Vermieter, die Tür des Büros hinter sich abzuschließen. Wieder beobachte ich fasziniert, wie er vergeblich versucht, den Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen. Als Roland wieder kommt, kapituliert er, lässt den Schlüssel stecken und führt uns aus dem Gebäude heraus zum Auto. Das Auto ist überraschend neu und für unsere Bedürfnisse fast etwas zu groß, ein Mazda CX-3.
Endlich, zweieinhalb Stunden nach der Landung fahren wir in die Stadt zu unserer Unterkunft. Um sieben Uhr morgens sind die Straßen noch leer. Gut, so können wir uns erstmal an Auto und Straßenführung gewöhnen. Letztere hat es in sich. Wir verfahren uns trotz Google zweimal, befinden uns aber schließlich auf der Zielgeraden. Wenige Meter vor unserer Unterkunft attackieren plötzlich drei streunende Hunde unser Auto. Mit lautem Gebell laufen sie abwechselnd vor uns her und springen seitlich gegen das Auto. Entsetzen und Mitleid packen mich gleichzeitig. Endlich haben wir sie abgehängt und finden einen Parkplatz. Beim Aussteigen trete ich um ein Haar auf eine tote Katze.
Erschüttert und müde machen wir uns auf in die Unterkunft. Die Gebäude in unserer Straße sind halb verfallen. Gegenüber von unserem Haus befindet sich eine große Baustelle. In unser Haus gelangen wir mit einem Zahlencode. Auch dieses Haus hat wohl schon bessere Zeiten gesehen. Unsere Wohnung befindet sich im ersten Stock. An den Wohnungsschlüssel gelangen wir auch mittels Code, den wir in eine kleine Box neben der Tür eingeben müssen. Der Schlüssel passt auch ins Schloss und lässt sich drehen, einmal, zweimal… zehnmal, aber die Tür öffnet sich nicht. Was haben die Georgier nur mit ihren Schlüsseln? Immerhin lässt er sich wieder aus dem Schloss ziehen. Roland ist schon dabei, unserem Vermieter eine WhatsApp zu schreiben, als ich ein zweites Schlüsselloch in der Tür entdecke. Der Schlüssel passt auch hier und die Tür öffnet sich. Das wäre also geschafft. Ohne weiteres Prozedere fallen wir erstmal ins Bett.

Tiflis – alles ähnlich und alles anders

Nach einer zweistündigen Siesta gehen wir einkaufen. Bevor wir in den Supermarkt Carrefour dürfen, wird Fieber gemessen und Desinfektionsmittel auf die Hände gesprüht. Im Supermarkt verhalten sich die Leute ähnlich wie beim Boarding. Ohne Rücksicht auf Abstände oder das korrekte Tragen von Masken ist jeder sich selbst der nächste.
Nach erledigtem Einkauf und einem Brunch in unserer Unterkunft gehen wir auf die erste Stadterkundung. Vieles erinnert an vergangene Reisen. Die Stadt hat einen ähnlich morbiden Charme wie Catania auf Sizilien. Viele Häuserfassaden erinnern an den Kolonialstil auf Cuba. In einem Café gibt es Baklava. Hier werden Erinnerungen an die Türkei wach. Und doch ist alles anders. Die Menschen hier sind sehr zurückhaltend. Oft wirken sie eher kritisch und beäugen uns argwöhnisch. Kommen wir jedoch mit ihnen ins Gespräch, sind sie sehr freundlich und zugänglich.
Besonders sympathisch ist unser Vermieter Niko. Er ist noch sehr jung, lernt Webentwickler und ist ganz begeistert, in Roland einen Gleichgesinnten zu treffen. Zur Begrüßung hat er uns schon einen Weißwein und einen von seinen Eltern selbstgekelterten Rotwein in den Kühlschrank gestellt. Als er uns besuchen kommt, bringt er uns auch noch eine Flasche Sekt mit. Täglich erkundigt er sich per WhatsApp nach unserem Befinden und gibt uns zahlreiche Tipps für Restaurants und landestypische Gerichte.
Eines Abends in einem Weinlokal erzählt uns dessen Besitzer, dass sich in dieser Straße normalerweise  die Touristen gedrängt hätten. Seit Corona ist sie fast menschenleer. Auch am letzten Abend in einer anderen Weinbar erzählt uns der Kellner, dass sie das Lokal erst am Vorabend wieder geöffnet hätten, mit einer sehr reduzierten Speisekarte. Die Infektionszahlen in Georgien waren sehr gering, während der Virus ganz Europa fest im Griff hatte. Nun steigen die Zahlen wohl auch hier.
Ja, die Stimmung ist seltsam: einerseits ist es sehr angenehm, die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten ganz exklusiv ohne andere Touristen zu besichtigen, andererseits beschleicht uns ein mulmiges Gefühl, wenn wir die verwaisten Anlagen betreten. Restaurants, Cafés, Souvenirläden… Viele sind geschlossen, einige auf Zeit, viele für immer. Zahlreiche Bauprojekte scheinen abgebrochen. Man wartet wohl ab, ob es sich lohnt. Da machen aktive Baustellen Mut, wie die in unserer Straße. Die Stadt befindet oder befand (?) sich im Aufschwung. Vieles könnte schön werden, einige Straßenzüge und Parkanlagen sind es schon. Faszinierend sind die zahlreichen Skulpturen, die Brücken, Brunnen oder Kreisverkehre zieren oder einfach auf einer Bank sitzen oder auf dem Gehweg stehen. Außerdem beeindrucken auffallend große Gebäude und Skulpturen. Sie geben der Stadt einen monumentalen, mondänen Charakter.
Ein Flohmarkt versetzt uns in die Vergangenheit. Hier wird Silberbesteck und Geschirr aus längst vergangenen Zeiten angeboten. Auch Messer aller Art, chirurgisches Besteck und Patronenhülsen kann man hier erwerben.
Am letzten Abend gehen wir noch einmal bei Nacht über die beleuchtete Friedensbrücke, genießen den Blick über den Fluss Kura und schlendern durch den Rikepark. Die Stimmung ist fast berauschend. Es weht ein sehr laues Lüftchen. Noch immer ist es tropisch warm. Ein Gitarrenspieler untermalt alles mit angenehmen Klängen. Die Lichter der Stadt funkeln. Nur die Touristenführer, die gerne ihre nächtlichen Bootstouren oder einen Aufstieg im Heißluftballon verkaufen wollen, stören die Stimmung etwas.

Tiflis ist für uns auch Ausgangspunkt für einige Ausflüge. Da die Straßen oft in schlechtem Zustand sind, verbringen wir viel Zeit im Auto.
Der Straßenverkehr in Georgien ist sehr gewöhnungsbedürftig. Nicht nur die Straßenführung auch die Fahrweise der Einheimischen ist eine Herausforderung. Straßenmarkierungen sind zwar existent, werden aber nicht eingehalten. Da werden aus zwei Spuren schnell mal drei, aus drei Spuren fünf. Statt Vorfahrt gilt das Recht des Dreisteren und all das, obwohl die Polizei ständig präsent ist. Bei einem Ausflug werden wir auf der Landstraße Zeugen einer kleinen Verfolgungsjagd: Vor uns überholt ein Autofahrer trotz durchgezogener Linie das Fahrzeug vor ihm und bringt das Fahrzeug auf der Gegenspur in Bedrängnis. Dummerweise ist es ein Polizeiwagen. Im Rückspiegel beobachten wir wie dieser wendet und hinter uns Fahrt aufnimmt. Schließlich überholt er uns und einige Fahrzeuge vor uns und stellt den Verkehrssünder. Wir können uns einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren.

Unsere Ausflüge führen uns in die Weinregion Kachetien, wo wir ein Weingut, den Ort Sighnaghi mit alter Stadtmauer und das Kloster Bodbe besichtigen und nach Mzcheta mit der Bergkirche Dschwari, von der aus man einen schönen Ausblick über den Zusammenfluss der Flüsse Kura und Aragvi hat. Dieser Ort ist besonders bei Brautpaaren für das Fotoshootings beliebt. So beobachten auch wir eine Hochzeitsgesellschaft, sogar mit Hund im Hochzeitsgewand.
Beim Eingang knipst uns ein Fotograf und verkauft uns am Ende unser Foto auf einem Magneten. Auch er erzählt uns traurig, dass nur noch sehr wenige Touristen kämen. Vor Corona seien es 1000 pro Tag gewesen.
Ein Höhepunkt ist der Ausflug zum Kloster David Garedschi mit sehr abenteuerlicher Anreise. Die Hälfte der Strecke führt durch Militärgelände auf einer Schotterpiste.
Das Kloster ist in den Felsen gebaut Und liegt direkt an der Grenze zu Aserbaidschan. Würden uns die georgischen Soldaten nicht davon abhalten, könnten wir über den Berg steigen und uns den Teil des Klosters, der auf aserbaidschanischem Boden liegt, auch ansehen. Einer der Soldaten erklärt uns, dass es wegen der politischen Situation nicht mehr erlaubt sei, die Grenze zu überschreiten. Schade! Wir müssen uns also mit dem Bauwerk auf der georgischen Seite zufriedengeben. Dieses ist aber auch schon sehr beeindruckend. Die Behausungen der Mönche sind wirklich in den Felsen hineingehauen und werden durch Anbauten aus Stein und Holz ergänzt. Im Innenhof steht ein wunderschöner Granatapfelbaum mit prallen roten Früchten. Es fällt auf, dass in allen Kirchengärten mindestens ein Granatapfel- und ein Ölbaum stehen.
Die georgisch-orthodoxen Kirchen wirken etwas einschüchternd. Meist sind es riesige und erstaunlich alte, bis in das sechste Jahrhundert zurückgehende, innen eher schlicht gehaltene Steinbauten. Dabei handelt es sich oft um Kreuzkuppelkirchen.
(Zur Kirchenarchitektur in Georgien siehe www.georgia-insight.eu)

Nach 6 Tagen Tiflis haben wir einen insgesamt guten Eindruck von der Stadt, ihrer Umgebung und den Einheimischen gewonnen und fahren weiter nach Achalziche.