Unsere Reise beginnt mit einem Tag des Schlangestehens und wir stellen fest, dass Reisen immer zeitaufwendiger wird: mehr Menschen, mehr Sicherheitsmaßnahmen, mehr technische Ausfälle und Verspätungen. Auf mich haben sie es insbesondere abgesehen und ich muss schon vor Abflug in München durch einen extra Sicherheitscheck und werde nach unserer Ankunft in New York bei der Passkontrolle besonders ausführlich ausgefragt. Aber der Großteil des Personals ist ausgesprochen freundlich und der Flug verläuft entspannt.

Die Zeit in New York verbringen wir bei meinem sehr guten Freund Marcus, der mit seinem Partner Adrian in einem Haus in Brooklyn wohnt. Als wir ankommen, sind die beiden noch auf der Rückfahrt aus ihrem Urlaub und Marcus hat uns den Schlüssel hinterlegt und den Code für die Alarmanlage gegeben. Wir schließen also auf, geben den Code ein und der Alarm geht los. Was haben wir falsch gemacht? Wir versuchen es immer wieder mit dem Code, aber aus der Alarmanlage kommt die unerbittliche Ansage: „Alarm front door“ und es piept ohne Unterlass. Leider sind wir noch nicht online und können nicht mit Marcus kommunizieren. Nach ungefähr vierzig Minuten kommt die Polizei. Roland kann den freundlichen Politessen jedoch glaubhaft erklären, dass wir uns rechtmäßig in der Wohnung befinden, woraufhin die beiden wieder abziehen. Ich denke mir ganz nebenbei, dass ein Einbrecher relativ viel Zeit hätte, um sein Unwesen zu treiben… Nach eineinhalb Stunden kommt Marcus zur Tür herein, stellt den Alarm ab und stellt fest: „Ich habe euch den falschen Code gesagt. Was für ein Willkommen!“ Vollkommen egal. Die Wiedersehensfreude ist riesengroß. Wir haben uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen! Nun steht einem entspannten Abend mit Pizza, Wein und gemeinsamem Schwelgen in Erinnerungen nichts mehr entgegen.

In den nächsten Tagen erleben wir ein wunderbar entspanntes, in vielen Hinsichten neues New York. Wir erkunden Brooklyn, Manhattan, den Prospect Park, Little Island, die World Trade Center Gedenkstätte, gehen über die Brooklyn Bridge und schlendern die High Line entlang, die es uns besonders angetan hat. Hier wurde eine alte höher gelegene Bahntrasse zu einem begrünten Spazierweg. Weitere Highlights sind eine abendliche Bootsfahrt auf dem Hudson River, der Besuch des Musicals „Hadestown“ am Broadway und eine exklusive Führung durch das UNO Gebäude mit Marcus, der dort arbeitet. Am Wochenende machen wir einen Ausflug nach Coney Island, einem der Stadtstrände der New Yorker und legen einen Stopp in einem erstaunlich authentischen georgischen Restaurant ein, was Erinnerungen an unsere Reise nach Georgien wachruft. An unserem letzten Tag besuchen wir gemeinsam Ellis Island. Es ist für uns alle vier neu, sehr beeindruckend und wieder mit einer Bootsfahrt bei bestem Wetter auf dem Hudson River verbunden. Meine liebe Großtante Bärbel erinnert sich daran, dass unsere amerikanischen Verwandten vor einigen Jahren eine Kopie aus der Einwanderungs-Registrierung bekommen konnten, auf der man lesen konnte, dass ein Bruder und eine Schwester meines Ur-Opas im Jahre 1905 mit dem Einwandererschiff auf Ellis Island angekommen sind. Diese Schwester konnte ich noch in Dayton, Ohio besuchen, als ich dort mein Austauschjahr verbrachte. Wie klein die Welt doch ist!

Am nächsten Tag ist es schon wieder Zeit uns zu verabschieden. Es war eine wundervolle Woche in New York. Doch bevor wir der Stadt den Rücken kehren, erleben wir eine ereignisreiche und interessante Fahrt zum Flughafen: Unser Flug nach Cincinnati startet in Newark. Die Fahrt dorthin ist etwas langwierig und wie sich herausstellt, ist es gut, dass wir uns einen ordentlichen Zeitpuffer gelassen haben. Wir fahren mit der U-Bahn bis Pennsylvania Station und steigen dort in einen Regionalzug um. Marcus hat uns vorgewarnt, dass es eine Herausforderung sein würde, den richtigen Zug zu finden. Ist es! Bis wir das richtige Gleis gefunden haben, ist unser Anschlusszug weg. Den nächsten erwischen wir, aber gerade als wir uns erleichtert auf die Sitze haben fallen lassen, kommt der Schaffner herein und verkündet, dass der Zug nicht mehr fährt und wir zum Gleis 10 wechseln sollen. Dort stehe ein funktionstüchtiger Zug bereit. Wir befinden uns am Gleis 1. Wir bräuchten uns jedoch nicht zu beeilen. Man würde warten, bis alle umgestiegen seien. Entsprechend lange warten wir noch im „neuen“ Zug, bis wir endlich in Richtung Newark fahren.

Uns gegenüber sitzt ein junger, attraktiver, sportlich gekleideter Afroamerikaner, der sich als Unterhaltungstalent entpuppt. Ich überlege noch, ob er in einem New Yorker Basketballteam spielt als er uns anspricht: „You‘ve got some mighty big bagpacks there.“ Er meint unsere Koffer. „Yes“, bestätige ich. „Where you going?“ Wir erzählen ihm von unseren Reiseplänen und unversehens sind wir in einem angeregten Gespräch über das Reisen an sich. Er erzählt uns, dass sein liebstes Reiseland Italien, seine Lieblingsstadt Rom ist und zeigt uns Fotos seiner letzten Reise dorthin, die er erst kürzlich unternommen hat. Dann gehen wir über zur Arbeitswelt und erfahren, dass er nachts im Musikgeschäft und tags in der Post arbeitet. Schließlich bezieht er auch noch die beiden Damen, die außer uns im Abteil sitzen, in das Gespräch mit ein und befragt sie nach ihren Arbeitswegen und ob sie glauben, dass die Zugverbindung in den nächsten Tagen vom angekündigten Hurrikan beeinträchtigt sein könnte. Eine der beiden Frauen berichtet, dass sie das schon bei einem Hurrikan erlebt habe, woraufhin alle überlegen, wann der letzte heftigere Hurrikan über New York gefegt hat und erinnern sich an Hurrikan Sandy im Oktober 2012. An der nächsten Station gesellt sich ein junger Mann mit einem Elektroroller zu uns und unser Entertainer ruft aus: „I always wanted one of those.“ und beginnt, den jungen Mann auszufragen. Dieser gibt bereitwillig Auskunft und wir erfahren, dass der E-Roller 420 $ gekostet hat, 25 Meilen fährt und dass der Besitzer im IT-Bereich arbeitet. Die Stimmung in unserem Abteil wird immer besser und wir bedauern sehr, dass wir uns schließlich verabschieden müssen, um in den Airtrain zum Flughafen umzusteigen. Auch hier fällt ein Zug aus und wir gratulieren uns erneut zu unserem Zeitpuffer, der auf wenige Minuten zusammengeschmolzen ist. So geht aber alles sehr entspannt und wir starten pünktlich in Richtung Cincinnati. Im Flugzeug erleben wir noch einen Moment der Verwirrung, da es in der Durchsage heißt, wir würden nach Kentucky fliegen. Aber wir wollen doch nach Ohio! Doch schnell finden wir heraus, dass sich Cincinnati an der Landesgrenze und der Flughafen in Kentucky befindet.

Und dann wird es spannend:

Chris ist meine beste Freundin aus der Zeit, als ich ein Jahr als Austauschschülerin in Dayton, Ohio verbrachte. Ich habe sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen und die Aufregung und Vorfreude auf das Wiedersehen steigt sekündlich. Als wir mit dem Gepäck aus dem Flughafengebäude treten, hat sie schon mehrere Runden mit dem Auto gedreht und wenige Minuten später liegen wir uns in den Armen. Roland wird natürlich herzlich mit umarmt.

Während der kommenden Tage überschlagen sich Chris und ihre Familie vor Gastfreundlichkeit. Wir wohnen mit Chris, ihrem Mann, zwei Söhnen, ihrer Mutter, einem Hund und fünf Katzen unter einem Dach und fühlen uns pudelwohl. Chris konnte sich die ganze Woche freinehmen und wir schauen uns gemeinsam jeden Tag eine andere Sehenswürdigkeit an, darunter den Botanischen Garten, das Cincinnati Art Museum und das National Underground Railroad Museum. Letzteres beeindruckt uns besonders. Hier kann man alles über die Underground Railroad erfahren, eine Organisation, die sich der Sklaverei in den Weg gestellt und geflohenen Sklaven geholfen hat, weiter in den Norden bis nach Kanada zu fliehen, wo sie endlich ihre Freiheit erlangen konnten. Erst kürzlich haben Roland und ich den Film „Harriet, der Weg in die Freiheit“ gesehen, der dieses Thema behandelt. Uns war allerdings nicht bewusst, dass sich die Geschichte genau hier abspielte. Besondere Persönlichkeiten waren hier John Parker, ein ehemaliger Sklave, der sich frei gekauft hatte und der Pastor John Rankin, dessen Haus in Ripley wir auch besuchen. Das Haus liegt auf einem Hügel am Ohio River. Hier konnten John Rankin und seine Familie gut sehen, wenn Gefahr drohte und sich verteidigen. Das Haus war Zwischenstation für geflohene Sklaven, die über den Ohio River aus Kentucky kamen, der an dieser Stelle besonders schmal war. John Rankin und seine Frau hatten 13 Kinder, die alle mit ihren Eltern zusammenarbeiteten und Tag und Nacht Geflüchteten halfen. Auf diese Weise verhalfen sie über 2000 Sklaven zur Freiheit, ohne je von ihren Widersachern erwischt zu werden. Hier gibt es unzählige spannende und berührende Geschichten, von denen uns unserer Touristenführerin im Rankin Haus einige erzählt.  Chris und Aaron, der aus dem Ort Ripley stammt, aber das Ranking Haus noch nie besucht hat, sind genauso tief beeindruckt wie wir.

An einem Abend besuchen wir ein Jazz Konzert in Cincinnati unter freiem Himmel. Leider ist es ausgerechnet der Abend, an dem der Himmel beschließt, seine Schleusen zu öffnen uns wir werden schon nach einer halben Stunde so nass, dass wir das Unternehmen aufgeben müssen.

Da Chris weiß, dass wir keine Fastfood Fans sind, führt sie uns nur in Lokale und Supermärkte, in denen es „gesundes“ Essen gibt. Wir sind erstaunt, wie gut man sich hier tatsächlich ernähren kann und das Schönste ist, dass oft die ganze Familie mitmacht. Als wir an einem Abend zusammen draußen auf der Terrasse sitzen und uns unterhalten, bemerkt der dreizehnjährige Jacob, sie sollten sich in der Familie öfter zusammensetzen und einfach unterhalten. So haben wir mit unserem Besuch vielleicht die Gewohnheiten einer amerikanischen Familie ein kleines bisschen positiv beeinflusst.

Am letzten Tag fällt der Abschied schwer und es bleibt nur das Versprechen, dass wir uns bald wiedersehen werden.

Im Nachgang sinnieren wir über einige amerikanische Gewohnheiten nach, die wir aus unserer Heimat (noch) nicht so kennen: Sehr positiv fällt uns auf, dass man in jedem Geschäft, sogar im Supermarkt, persönlich begrüßt und nach dem allgemeinen Befinden gefragt wird. Im Supermarkt „Jungle Jims“ wird außerdem im Eingang eine mit einer eingängigen Melodie unterlegte Begrüßung vom Band abgespielt, die zu unser aller Erheiterung beiträgt und zu unserem persönlichen Jingle wird: „Welcome to the Jungle Jims!“
Nicht ganz so positiv erscheint uns der exzessive Gebrauch des Autos. Man fährt außerhalb der großen Städte ausschließlich damit und zwar fast überall hin. Bei vielen Erledigungen muss man nicht einmal aussteigen. So kann man nicht nur essen und Kaffee trinken, ohne das Auto zu verlassen, auch Geld vom Bankkonto abheben, oder die Wäsche zum Waschen abgeben und abholen ist per „Drive-thru“ möglich. Den Schulweg per Bus, Fahrrad oder gar zu Fuß zurückzulegen ist sehr unpopulär, selbst wenn es sich um kurze Distanzen handelt. Hier wird das Elterntaxi in jedem Fall bevorzugt. Wir passen uns an und setzen unsere Reise in einem Mietwagen fort. Auf geht es in Richtung Michigan.