„Tu imaginación está aprendiendo un nuevo baile. ¿Y vos?“
(Deine Fantasie lernt einen neuen Tanz. Und du?)
Graffiti auf einer Hauswand in Buenos Aires
Können wir uns ein Leben auf Curaçao vorstellen? Diese Frage stellt sich, als plötzlich unser Flug nach Buenos Aires gestrichen wird. Wir können es erst gar nicht glauben, aber der Online-Reiseveranstalter Flighttix kann uns keinen Ersatz anbieten, nur die Rückerstattung des Flugpreises, abzüglich der Gebühren für die Kreditkarte, versteht sich. Da wir den Rest unseres Lebens nicht auf der Antilleninsel verbringen wollen, gehen wir zum Avianca-Büro und sind erleichtert, dass wir noch einen Flug mit guter Verbindung nach Buenos Aires bekommen.
Nach 10 Stunden Flugzeit betreten wir am frühen Morgen argentinischen Boden. Unser Vermieter Ruy holt uns pünktlich vom Flughafen ab und gibt uns auf der durch Stau bedingten langen Fahrt in die Stadt schon einmal die wichtigsten Informationen. Ich bin so müde von der Flugnacht, dass ich kaum folgen kann, aber Ruy spricht bestes Englisch und Roland ist ganz Ohr. Da unser Apartment noch nicht fertig ist, schlage ich vor, dass Ruy mich auf dem Mittelstreifen der Avenida 9 de Julio (eine der größten Verbindungsstraßen in Buenos Aires) aussteigen lässt, damit ich mich dort ins Gras legen kann. Sofort bietet Ruy an, dass wir uns in einem anderen seiner insgesamt sieben Apartments ausruhen können, bis das unsrige fertig ist. Ah, welche Wohltat! Eine Aspirin und eine halbe Stunde in der Waagrechten später bin auch ich bereit für die erste Stadterkundung.
Wir schlendern durch unser Stadtviertel Monserrat und finden ein Café mit gleichem Namen zum Frühstücken. Gleich fällt mir die Ankündigung von kostenlosen Tangostunden auf, die dort donnerstags angeboten werden. Nach der ersten Schnupperstunde am folgenden Donnerstag wollen wir mehr und machen uns auf die Suche nach Privatlehrern. Wir finden Lucia und Gerry, bei denen wir ein Paket von insgesamt acht Mal 90 Minuten Unterricht buchen und mit denen wir auf zwei sehr unterschiedliche Milongas gehen. Die erste Milonga an einem Mittwochabend beeindruckt uns sehr. Es spielt eine fantastische Live-Band und es wird eine beeindruckende Tanzshow geboten. Auch wir dürfen unser „Können“ beweisen, stellen allerdings fest, dass die Livesituation auf engem Raum mit vielen Tänzern relativ wenig mit dem Privatunterricht in einem großen Tanzsaal zu tun hat. Bei der zweiten Milonga an einem Freitagnachmittag senken wir den Altersdurchschnitt um circa zehn Jahre. Es gibt weder Livemusik noch Show. Dafür wird umso eifriger getanzt. Roland wird auch sofort von einer rüstigen Siebzigjährigen aufgefordert. Gerry hat ihm zu spät den Tangokodex erklärt: Du darfst niemandem in die Augen sehen, wenn du nicht mit ihm oder ihr tanzen möchtest. Also schaut Roland ab sofort den Tisch an und wir verbringen die meiste Zeit gemeinsam auf der Tanzfläche und freuen uns, dass es schon ganz gut klappt. Roland summt nun auch schon die Tangomelodien mit, um sich so richtig in die Musik einzufühlen.
Und die Stadt Buenos Aires? Sie ist wie ein Tango, voller Gegensätze: laut, leise, traurig, fröhlich, heruntergekommen, modern, entspannt, aufgeregt, leidenschaftlich.
Jedes Viertel ist ganz anders: In Monserrat und San Telmo sehen wir kaum einen Baum, viele streunende Hunde, Menschen, die auf der Straße schlafen, aber auch jede Menge Cafés, Bars und Restaurants. Recoleta und Palermo dagegen sind sehr grüne Bezirke mit sehr schicken Läden und Restaurants. In Recoleta ist Roland sehr angetan von der Floralis Genérica, einer riesigen Blume aus Metall, deren Blütenblätter sich abends schließen und die von innen leuchtet, ein wunderbares Fotomotiv. La Boca bezaubert mit seinen Fußgängerzonen und den kleinen bunten Häuschen. Leider herrscht hier der Tourismus und außerhalb der für Touristen hergerichteten Straßen kann man sich nicht sicher bewegen. Sehr angetan sind wir vom Barrio Rawson, der durch den Autor Julio Cortázar geprägt ist und in dem wir eine sehr entspannte Pause in dem nach seinem Roman benannten Café Rayuela verbringen. Eine solche Einkehr dauert übrigens immer recht lange, denn die Argentinier haben sehr viel von dem, wovon wir Deutschen nur sehr wenig haben: Zeit.
Am ersten Samstagabend ist die lange Nacht der Museen. Wir haben vor, uns die Casa Rosada, den Regierungssitz von innen anzuschauen. Leider sind wir mit dieser Idee nicht alleine und geben auf, nachdem wir zwei Straßenblocks weiter das Ende der Schlange gefunden haben. Die Argentinier stellen sich übrigens immer sehr ordentlich an, auch an Geldautomaten und Bushaltestellen. Wir sehen in der Nacht immerhin noch eine Evita- und eine Comicausstellung und hören einer sehr guten Trommelgruppe auf der Straße zu.
Tagsüber laufen wir durch die Straßen und erkunden unterschiedliche Sehenswürdigkeiten, wie die Route der Comicskulpturen, den urigen Friseursalon La Época, das Tattoo-Eldorado Bondstreet, oder die größte Buchhandlung von Buenos Aires in einem ehemaligen Theatersaal El Ateneo. Im Umland von Buenos Aires entdecken wir schöne Landschaften am Rio de la Plata mit einem Rundweg durch ein Biotop und einigen Gutshäusern aus Gründerzeiten.
Zu unseren schönsten Erlebnissen zählen die Unternehmungen mit unseren Freunden Ele und Jörg, die zufällig auch gerade ihren Urlaub in Argentinien verbringen. So verbringen wir einen Abend gemeinsam am Plaza Dorrego in San Telmo bei Parrilla (Grillfleisch), Malbec Rotwein und Tangoshow und unternehmen eine Exkursion nach La Colonia in Uruguay. La Colonia reißt uns zwar nicht vom Hocker, aber immerhin verbringen wir einen netten gemeinsamen Tag mit schönen Ausblicken auf den Rio de la Plata (von der anderen Seite) und finden, wieder angekommen in Buenos Aires, sogar zu später Stunde noch eine Bar mit sehr genießbaren Empanadas. Außerdem schlendern wir zusammen durch Palermo, wo Ele und ich nicht an den Schmuckläden vorbeikommen und unsere Männer gerne für uns in die Tasche greifen. Später geht es weiter durch die großen Parkanlagen, wo Roland und ich sogar eine Ruderpartie auf einem See wagen. Den Tag beschließen wir mit einem durchaus schmackhaften Essen in einem vegetarischen Restaurant, freuen uns allerdings insgeheim schon wieder auf die nächste Parrilla.
Auch Rolands Freunde Alex und Ralf verbringen einige Tage ihres Urlaubes in Buenos Aires und wir treffen uns zu einem gemeinsamen Abendessen in San Telmo (Parrilla), bei dem wir unsere Erlebnisse austauschen können.
Eine weitere sehr interessante Begegnung gibt es mit der argentinischen Tante eines meiner Abiturienten Paula, die in Buenos Aires lebt. Sie ist Dozentin und lädt uns ein, eine Vorlesung ihrer Kollegin zu Goethes Torquato Tasso zu besuchen. Wir nehmen die Einladung an und bestaunen den heruntergekommenen Charme der Uni. In der Vorlesung bilden wir 50 Prozent der Teilnehmer und werden ausführlich zum deutschen Bildungssystem befragt. Anschließend gehen wir mit Paula und ihrem Freund Carlos, der aus Uruguay stammt, Pizza essen. Paula ist Peronista und kritisiert die bestehende Regierung Argentiniens heftig: Wichtige Errungenschaften wie die kostenfreie Bildung, der achtstündige Arbeitstag und die Urlaubsregelung würden wieder diskutiert. Sie fürchtet sehr um die Zukunft Argentiniens. Student Nacho, ein Bekannter von Ele und Jörg dagegen ist froh über die Regierung und sagt, dass endlich in die Wirtschaft investiert würde. Auch hier prallen offensichtlich Welten aufeinander. Carlos erklärt uns dann noch ausführlich, dass der berühmte Tangosänger und -komponist Carlos Gardel aus Uruguay, nicht etwa aus Argentinien stammt, was Paula für absoluten Blödsinn hält. Es gibt auch die Ansicht, Gardel käme aus Frankreich…
Mit Paula und Carlos verbringen wir noch einen Sonntag auf der Feria de Mataderos, auf der wir auch Ele und Jörg treffen. Die Feria gefällt uns sehr gut, da sie authentischer wirkt als manch andere Feria in Buenos Aires. Auch hier gibt es Kunsthandwerk zu bestaunen und zu kaufen: Matebecher, Produkte aus Leder und Schmuck.
Paula macht uns auch auf die baldosas homenajes aufmerksam, die in der ganzen Stadt verteilt sind. Ähnlich wie die Stolpersteine in Berlin, erinnern diese Gedenkfliesen an Menschen, die zur Zeit der Militärdiktatur verschleppt wurden und verschwunden sind, ein sehr trauriges Kapitel der argentinischen Geschichte.
Noch ein Wort zum Essen. Uns wurde mehrfach vom guten italienisch beeinflussten Essen vorgeschwärmt. Ja, es gibt sehr viele Pizzerien. Nein, es gibt dort nicht die beste Pizza der Welt, denn man findet sie kaum unter dem Berg Käse. Ja, es gibt sehr variantenreiche Pasta mit unterschiedlichen Soßen, aber man ist gut beraten, sie selbst zuzubereiten, denn leider wird sie in den Restaurants viel zu lange gekocht und kommt als Brei auf den Teller. Wirklich gut hingegen ist die Parrilla, die Salatauswahl und die Kartoffelvarianten: gebraten, frittiert oder als Püree. Auch Rabas (Kalamari) und Empanadas sind ein wahrer Genuss.
Mittlerweile fühlen wir uns fast schon heimisch in Buenos Aires, dieser Stadt mit einer ganz besonderen Ausstrahlung, die uns irgendwie in ihren Bann gezogen hat. Vor allem der Abschied von unseren Tanzlehrern Lucia und Gerry fällt uns schwer und Lucia vergießt sogar Tränen.
Trotzdem freuen wir uns auf unsere nächste Station: Bariloche, wo uns kühlere Temperaturen und mehr Natur erwarten.
Unser Lieblingsessen: Parrilla
Unser Lieblingsdrink: Malbec Rotwein
Gelesene Lektüre: Claudia Piñeiro – Las viudas de los jueves (Die Donnerstagswitwen).
Ein Krimi, der einen sozialkritischen Blick auf die gehobene argentinische Mittelschicht wirft. Der Roman beginnt sofort mit drei Toten. Dann ergeht sich die Autorin allerdings in teilweise langatmigen Beschreibungen, bis die Handlung ab der Buchmitte wieder an Fahrt aufnimmt und dann zum Ende hin recht spannend wird.
Wolfram Fleischhauer – Drei Minuten mit der Wirklichkeit.
Ein spannender Thriller und gleichzeitig eine atemberaubende Hommage an den Tanz als Ausdrucksform. Ein wahrer Lesegenuss.
Verwendeter Reiseführer: Benjamin Haas, Leonie Friedrich – 111 Orte in Buenos Aires, die man gesehen haben muss. Emons Verlag 2016.
Gibt sehr subjektive, aber stellenweise durchaus interessante Tipps.
Buenos Aires – la ciudad de la FELICIDAD….. ¡Me alegra mucho veros tan felices!
Liebe Tanja, lieber Roland,
danke für die schönen Bilder. Die Bäume blühen – bei uns ist es momentan sehr trüb und lichtlos.
Ihr seht sehr glücklich aus!
Alles Liebe und freu mich schon auf Block
Thea
Ich freue mich jedes Mal über eure tollen Fotos und die Berichte – für eine kurze Zeit kann man so dem grauen Alltag in Berlin entkommen. Viel Spaß und bleibt gesund!
Liebe Moni, wie schön, dass du so fleißig unseren Block liest. Ja, wir sammeln wirklich viele Eindrücke und lernen wieder staunen wie Kinder.
Herzliche Grüße nach München und eine schöne Adventszeit!
Ihr kommt ganz schön rum, und nicht nur auf dem Parkett.
Faszinierend der Riesenbaum, der von Atlas gestützt wird!
liebe Grüße und weiterhin eine Vielfalt von herrlciehn Erlebnissen
Moni
Wieder ein interessanter Bericht mit tollen Fotos… und viel entspannter als Curacao. Zum Tango fiel mir ein Buch ein, das ich vor ein paar Jahren gelesen habe: Wolfram Fleischhauer, Drei Minuten mit der Wirklichkeit. Ich fand es sehr spannend und instruktiv im Hinblick auf den Tango und die argentinische Geschichte. Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Herzliche Grüße und viel Vergnügen in Bariloche
Jürgen Müller
(Ich darf die Woche im grauen Berlin im Archiv verbringen.)
Lieber Herr Müller,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Es freut uns, wenn die Beiträge gelesen werden und gut ankommen. Ihr Literaturtipp passt sehr gut und vielleicht schaffen wir es, den Roman zu lesen.
Wir verbringen gerade die letzten Tage in der Studentenstadt Córdoba und sind ab dem 2. Dezember für einen Monat in Brasilien.
Viele Grüße nach Berlin
Grüße Sie Herr Müller,
vielen Dank für diesen wertvollen Lesetipp! Ich habe das Buch nun im Nachgang gelesen, bin sehr begeistert und habe es auch im Beitrag ergänzt.
Herzliche Grüße