„Der Sinn des Reisens besteht darin, unsere Fantasien durch die Wirklichkeit zu korrigieren. Statt uns die Welt vorzustellen, wie sie sein könnte, sehen wir sie, wie sie ist.“
Samuel Johnson (1696–1772)

Unsere Reise geht weiter über einen Zwischenstopp am Flughafen von Santo Domingo in der Dominikanischen Republik nach Curaçao. Schon bei unserem Zwischenstopp wird klar, dass auch wir mittlerweile zu den Internetjunkies gehören. Am Flughafen gibt es freies W-LAN. Nach zwei Wochen Abstinenz sind wir sofort eingeloggt. Die neunzig Minuten vergehen viel zu schnell, als dass wir alle E-Mails checken, WhatsApp schreiben und Informationen googeln könnten, die uns interessieren. Jeder von uns ist so in sein Handy versunken, dass wir fast den Einstieg in unser Flugzeug nach Curaçao verpassen. Das Boarding holt uns dann allerdings schnell wieder in die Realität zurück. Alle Menschen um uns herum sind so groß und dick, dass wir uns auf einmal sehr klein und schmächtig vorkommen und bezweifeln, dass alle ins Flugzeug passen. Überraschender Weise passen alle hinein und wir haben das Glück, eine Zweierbank für uns zu haben, können also von niemandem zerquetscht werden. Der nächste Schock ist die Temperatur während des Fluges. Von Kühlschrank- wird sehr schnell auf Gefrierschranktemperatur heruntergekühlt und wir sitzen bibbernd nebeneinander. Die nächste Überraschung: Neben Wasser, Saft und Cola gibt es Rum gratis. Wollen wir welchen? Frierend und im Flugzeug sitzend? Naa, wir entscheiden uns dagegen und bleiben beim Wasser.

In Curaçao angekommen, holt uns unser Vermieter Roberto mit dreißig Minuten Verspätung ab. Er fragt aber gleich: „How long did you wait?“ Wir antworten: „Half an hour.“ Er stellt fest: „That’s too long.“ Im Auto erklärt er uns dann gleich, dass die Bewohner von Curaçao sehr entspannt seien und eine Mañana-Mentalität hätten. Gesprochen würde Englisch, Spanisch und Papiamentu. Ja, die Moskitos würden Dengue und Zika übertragen, aber nur in der Dämmerung fliegen.

Von unserem Apartment sind wir recht angetan. Sehr nett finden wir, dass Robertos Frau Ruth uns etwas für ein spätes Abendessen und das erste Frühstück in den Kühlschrank getan hat. Die beiden erklären uns dann noch einige technische Dinge. Als Roberto spaßhaft sagt, wir könnten die Klimaanlage 24 Stunden am Tag laufen lassen, aber es würde auf unseren Geldbeutel ankommen, schauen wir uns fragend an. Die Erklärung folgt sogleich: Im Wohnzimmer hängt ein blinkendes und piependes Kästchen und zeigt eine Zahl an, die je nach Stromverbrauch stetig abnimmt. Roberto erklärt, dass wir Elektra kopen müssen, sobald wir wissen, wie viel davon wir pro Tag brauchen. Wo wir Elektra bekommen? Beim Chino oder bei der Tankstelle. Alles klar. Auf die Klimaanlage werden wir verzichten. Ach ja, den Chinesen würden sie nicht trauen, jedenfalls nicht, was die Lebensmittel angeht. Wir sollten dort höchstens Konserven kaufen.

Am nächsten Tag folgt die erste Ernüchterung. Die Aussicht von unserer Terrasse, am Abend noch ein buntes Lichtermeer entpuppt sich nun als Ausblick auf eine Ölraffinerie. Sehr schnell stellen wir fest, dass weder spazieren gehen, noch Fahrrad fahren auf dieser eigentlich kleinen Insel Spaß machen.

Die ersten Tage nutzen wir zum Akklimatisieren und Ausloten, was eventuell doch zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln möglich ist. Denn eines ist sicher: Wir müssen uns fortbewegen und zwar einige Kilometer weit, um das als so schön angepriesene Stadtzentrum von Willemstad oder gar einen Strand zu sehen. Also befragen wir Google und finden ein Meer, bzw. eine Lagune in relativer Nähe, das Asfaltmeer. Wir machen uns auf den Weg an einer viel befahrenen Schnellstraße entlang und kommen zum Areal der Ölraffinerie. Daher also der Name Asfaltmeer – von Wasser keine Spur. Mäßig begeistert wandern wir wieder zurück und stellen fest, dass Fußgänger hier einfach nicht eingeplant sind. Denn zum Überqueren der breiten Straßen gibt es keine Fußgängerampeln. Zum Glück sind die Bewohner von Curaçao auch beim Autofahren sehr entspannt und bremsen ab und an auch für Fußgänger, sonst stünden wir jetzt wahrscheinlich immer noch auf der anderen Seite des Schottegatweg.

Immerhin gelingt es uns am nächsten Tag, mit einem Minibus in nur zwanzig Minuten ins Stadtzentrum zu fahren und wir bummeln durch das karibische Amsterdam. Ja, es ist recht hübsch, sehr bunt. Ehrliche Begeisterung kommt aber erst im Pietermaai-Viertel auf, das mit kleinen Straßen und wirklich putzigen bunten Häuschen viele Fotomotive bietet. Da der Weg zum nächsten Strand nicht so weit scheint, laufen wir los. Nach ca. 50 Minuten stürzen wir uns durchgeschwitzt ins türkisblaue Wasser und stellen wieder einmal fest: Die Einheimischen ticken irgendwie anders. Sie fahren mit dem Auto direkt bis zur Wasserkante, rollen sich dann direkt vom Autositz ins Wasser und sorgen für einen steigenden Wasserspiegel. Hier fährt man/frau Auto, isst viel und bewegt sich wenig. Wir bleiben trotzdem standhaft und treten die Rückfahrt mit dem Minibus an. Google sagt uns, dass eine große Straße relativ direkt zu unserem Apartment führt. Wir stellen uns also an die Bushaltestelle und warten. Nach einigen Minuten hält auch einer, erklärt uns aber, wir müssten erst ins Zentrum fahren und dann von dort aus mit einem anderen Bus in unser Viertel. Aber er würde ins Zentrum fahren. Also steigen wir ein, obwohl wir ob der Richtung, in die die Straße führt, etwas skeptisch sind. Tatsächlich erreichen wir nach ungefähr 40 Minuten reichlich umwegiger Fahrt das Zentrum. – Das Minibussystem funktioniert so, dass sich jeder Fahrgast für einen kleinen extra Obolus bis vor seine Haustür fahren lassen kann. – Immerhin zeigt uns der Fahrer gleich den Bus, in den wir umsteigen müssen. Dieser fährt laut Aufschrift auf seiner Windschutzscheibe in unser Viertel und müsste uns dort absetzen, wo wir am Vormittag eingestiegen sind. Wir verfolgen die Fahrt auf Google Maps mit und stellen mit Entsetzen fest, dass der Fahrer eine ganz anderer Route einschlägt. Also erklären wir ihm, wo wir hin wollen. Leider spricht er weder Spanisch noch Englisch und wir kein Papiamentu. Wir haben den Eindruck, dass er sehr böse ist und uns ausschimpft, halten aber durchaus für möglich, dass es an der Sprache liegt. Denn letztendlich fährt er uns bis fast vor unsere Haustür und bedankt sich lächelnd für das Geld.

Nach vier Tagen geben wir uns geschlagen und mieten ein Auto. Ah, endlich zeigt sich uns die Insel von ihren schönen Seiten. Der Nordwesten der Insel entpuppt sich als landschaftlich durchaus reizvoll, an der Westküste grün bewaldet, an der Nordküste mit karger, bizarrer Mondlandschaft und schroffer Steilküste. Wir entdecken Traumstrände mit weißem Sand, Palmen und türkisblauem Wasser, besteigen den Christoffelberg, mit 375 Meter Höhe, die höchste Erhebung von Curaçao und genießen den atemberaubenden Blick über die ganze Insel. Er befindet sich im gleichnamigen Nationalpark und wir haben Glück, dass wir zu Fuß hinauf dürfen. Denn es führt keine Straße auf den Berg. Durch den Park dagegen führen Straßen. Es gäbe zwar auch Wanderwege, aber die Dame an der Kasse rät uns rigoros davon ab, einen davon zu betreten. Man würde sowieso alle vom Berg aus sehen. Wir erinnern uns: In Curaçao geht man nicht zu Fuß. Also kosten wir die Bergbesteigung richtig aus und freuen uns besonders über das letzte Stück zum Klettern.

Außerdem bestaunen wir den mit 800 Jahren ältesten Baum der Insel, einen Kapokbaum in dem kleinen Park Hòfi Pastor, besuchen eine Aloe Vera- und eine Straußenfarm und schauen uns den Kräutergarten Den Paradera an, den die Kräuter- und Heilpflanzenexpertin Dinah Veeris angelgt hat und in dem kranke Pflanzen liebevoll in einer kleinen Hängematte schaukelnd wieder gesund gepflegt werden.

Da wir nun schon über drei Wochen gemeinsam reisen und fast 24 Stunden auf engstem Raum miteinander leben, haben wir beschlossen, dass es an der Zeit ist, zu lernen, wie wir uns gegeneinander verteidigen können.
Nein, im Ernst: Wir waren auf der Suche nach einem Sport, den wir hier betreiben könnten. Tauchen und Surfen interessiert uns beide nicht sonderlich. Tanzen geht hier, aber weniger intensiv als auf Kuba. Laufen – auf dieser Insel eher unattraktiv. Workout geht auch, ist aber langweilig. Da ich mich sowieso schon mit dem Thema Selbstverteidigung beschäftigt hatte und wir auch bei unseren Reisevorbereitungen auf dieses Thema stießen, hat Roland recherchiert und gefunden: ein Krav Maga Studio in Willemstad. Wir gehen also hin, nehmen an einer Stunde teil und sind sofort in medias res. Trainiert wird die Entwaffnung von Angreifern mit Pistole. Oha, denken wir uns. Brauchen wir das? Und vor allem: Können wir das? Ja, wir können. Willem ist ein sehr sympathischer holländischer Trainer, der uns verblüffend einfache und effektive Entwaffnungstricks zeigt. Wir finden das Training zumindest interessant und lassen noch drei Privatstunden folgen, in denen wir die Entwaffnung von Angreifern mit Messer und Befreiungstricks aus sonstigen misslichen Situationen lernen. Krav Maga ist ein modernes israelisches Selbstverteidigungssystem, das wenig mit Sport und Fitness zu tun hat, sondern tatsächlich die reine Selbstverteidigung gegen alle möglichen Formen der Gewalt lehrt. Wir finden das Ganze nicht wirklich spaßig und etwas beklemmend aber sehr interessant und beeindruckend.
Obwohl die Tricks verblüffend einfach scheinen und wir uns nun wirklich gegeneinander verteidigen könnten, bezweifeln wir doch, dass es im Ernstfall so einfach wäre und hoffen, dass dieser nicht eintreffen wird. Allerdings gehen wir nun etwas aufmerksamer und selbstsicherer durch die Welt, was laut Willem schon die halbe Miete ist.

Nach vier Wochen karibischer Hitze freuen wir uns nun auf das etwas kühlere Buenos Aires.

Unser Lieblingsessen auf Curaçao: die Fleisch- und Garnelenspieße im Equus. Meistens haben wir allerdings selbst gekocht und das auch nicht schlecht.
Unser Lieblingsdrink: der selbstkreierte Curaçao-Cocktail aus Limettensaft, White Curaçao, Weißwein und Eis.

Gelesene Lektüre: Stefan Brijs: Taxi Curaçao
Eine erschütternd tragische Familiensaga, die einen Einblick in die Geschichte Curaçaos gibt.

Verwendeter Reiseführer: Dirk Schwenecke – Curaçao. Die 75 schönsten Sehenswürdigkeiten. 2017
Grundsätzlich gibt der Reiseführer brauchbare Informationen. Wir haben uns allerdings ab und zu über ungenaue Wegbeschreibungen, vor allem bei Wanderwegen geärgert.